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Alexander und Angela oder der lange Abschied von der Barmherzigkeit als Alleinstellungsmerkmal

 

Der Pflegeschüler Alexander Jorde hat Angela Merkel im Sommer letzten Jahres auf kaltem Fuß erwischt und ihr im Fernsehen vorgehalten seit 12 Jahren Regierungszeit keine bedeutenden Dinge für eine bedeutendes Problem getan zu haben: Den Pflegenotstand. 

 

Der wache Auszubildende Alexander hat also die Pflege auf die höchste politische Agenda gehieft. Ein Pflegeschüler hat den Zufall couragiert genutzt. Wo waren nur die Standesvertreterinnen und Standesvertreter die ganze Zeit?

 

Die berufliche Pflege befindet sich, soweit ich mich erinnere, also seit mindestens 40 Jahren als ich meine Pflegeausbildung begann, im permanenten Notstand. Wer sich nur am Rande mit der Geschichte der Pflege beschäftigt, kommt jedoch schnell zu der Erkenntnis, dass Pflege und Notstand zwei Wörter sind, die wie Kirche und Amen oder wie Krieg und Leiden ein unzertrennliches Wortpaar bilden. So scheint das Problem in Wellen, mal großen, mal kleinen, immer virulent zu sein seit es die Pflege als Ausbildungsberuf gibt, also seit ca. 160 Jahren als Frau Nightingale ihre Lampe durch die Lazarettbaracken der verwundeten und schwer kranken englischen Soldaten auf der Krim schwenkte.

 

Dem Pflegeberuf ist es förmlich in die DNA geschrieben, nicht ab und zu mit Krisen zu tun zu haben, sondern als eindeutiges Wesensmerkmal dauerhaft krisenhaft zu sein. Es fehlte immer an Leuten, die pflegen, es fehlte immer an Geld, um die wenigen Pflegekräfte so auszubilden und zu bezahlen, dass sie dauerhaft und professionell  ihren Beruf ausüben können.

 

Ich bin mir nicht sicher, was beschämender ist: Dass die Pflegenden und ihre Vertreter sich kein ausreichendes Gehör verschaffen können und auf den Mut eines Auszubildenden und den Zufall einer TV-Sendung zu Wahlkampfzwecken angewiesen sind oder dass die politische Klasse über alle Parteien hinweg der Pflege schon immer alles Gute wünscht und sich vor ihr verneigt, solange es nichts kostet. Die einzige Ausnahme im Laufe der letzten 800 Jahre scheint mir die Zeit der Pestepidemien im Mittelalter zu sein, als die Kirche es schaffte, sehr viel Pflegegeld an Spenden einzutreiben, weil die Gesunden glaubten, dass das eigene Seelenheil mit der barmherzigen Spende für die Pestkranken, wenn nicht zu sichern, so doch in jedem Fall günstig zu beeinflussen sei.

 

Die Barmherzigkeit als pflegerisches Motiv ist jedoch immer schon Segen und Fluch zugleich. Segen für die Spender, die sich heute, soweit erlösungsskeptisch gestimmt, ihrem Seelenheil zumindest im Diesseits sicher sein dürfen und Fluch für die Pflegenden, die sich an den guten Wünschen und Spenden laben können. Sie bekommen den Spendencent, doch wo ist der Euro, der ihnen zusteht.

 

Barmherzig-sein, um im Pflegejargon zu sprechen, ist eine Aktivität des täglich Lebens. Für die wird man jedoch nicht bezahlt. Sie ist Humanisten eigen, also auch Pflegenden, wenn sie sich als solche verstehen. Jedoch ist die Barmherzigkeit sofort verschwunden, wenn sie jemand für sich reklamiert, ob aktiv oder passiv. Wie der wahre Wohltäter vor nichts so sehr Angst hat wie vor dem Dank, so fürchtet der Barmherzige sich vor nichts mehr als vor der Enttarnung.

 

Die Pflege als Berufsstand ist in ihrer Struktur passiv und leidend und auf Spenden angewiesen, könnte man ernüchtert schließen. Das ist auch der tiefere Grund, weshalb sich so wenige gewerkschaftlich organisieren. Wer selbstbewusst und aktiv sein Interesse an guter Bezahlung und ebenso guten Arbeitsbedingungen vertritt, lässt sich nicht mit einer Gebetsmühle von Sonntagsrednern abspeisen. Das tun jedoch der größte Teil der Pflegenden seit 160 Jahren. Die Bilanz ist ernüchternd: Die aktiveren Pflegeleute sind nach kurzer Zeit arbeitsunfähig und ausgebrannt, wie Frau Nightingale nach 2 Jahren Kriegskrankenpflegen oder retten sich in Stabsstellen, Pflegeschulen und Managementpositionen um den Mangel  zu verwalten.

 

Wenn die Pflegenden es nicht schaffen, die selbstlose Barmherzigkeit, ihren Gründungsmythos, der bitten aber nicht fordern darf, aus Ihrer beruflichen DNA  zu entfernen und damit alle anderen auf die hinteren Plätze des Gutmenschentums zu verweisen, bleibt das Pflegeselbstverständnis überheblich und tragisch zugleich. Überheblich, weil er sich moralisch über alle anderen Berufe stellt und tragisch, weil er sich selbst die Möglichkeit nimmt, wie alle anderen Berufe ökonomische und rechtliche Forderungen zu stellen und diese mit nichts anderem begründet, als mit Kompetenz und Angebot und Nachfrage.

 

Es wird auch der sympathische und engagierte Alexander Jorde mit seiner Initiative wenig bewirken, wenn die Pflegenden sich nicht als normale Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstehen, deren Arbeit ideell nicht wertvoller und nicht wertloser ist, als der einer Lohnbuchhalterin, eines Personalsachberarbeiters, einer Ärztin oder eines Lokomotivführers.

 

Lassen wir ihn nicht allein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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